Andächtig betrachte ich den Altarraum der Frauenkirche von Dresden, als mich unvermittelt jemand von hinten in den Würgegriff nimmt.
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Instinktiv mache ich nicht die geringsten Anstalten, mich zu wehren. Mir ist sofort klar: ich habe sowieso keine Chance. Mein Zanchin war zu schlecht, es kommen zu sehen und gut genug um zu erkennen, wer der Angreifer ist.
Dresden
Am frühen Morgen dieses denkwürdigen Tages war ich mit dem Eurocity aus Hamburg nach Dresden angereist, um Zeit für Sightseeing zu haben. Am nächsten Tag wollte ich ins nahe Freital zum Karate-Lehrgang. Nach langer Wanderung Kreuz quer durch die Stadt – diesseits und jenseits der Elbe – stehe ich nun in der Frauenkirche und sehe meinem Ende entgegen.
Doch irgendwer meint es gut mit mir. Die Umklammerung löst sich. Ich drehe mich um, schaue dem Übeltäter ins Gesicht. Stummer Freudenschrei.
Der Überfaller ist nicht alleine, er hat schlagkräftige Verstärkung dabei. Kurze Zeit später finden wir uns auf der Aussichtsplattform des Gottes-Hauses wieder und genießen hoch oben über den Dächern der Stadt die wunderschöne Aussicht – auf Asai-ha Karate.
Freital
Langweilig, fast keiner da, zu spät angefangen, schlechte Laune. Dazu das übliche Gesabbel – ohne neue Erkenntnisse. Oh Verzeihung! Das waren ja meine Notizen der letzten Budget-Verhandlung im Büro. Habe da wohl etwas durcheinander gebracht. Die Aufzeichnungen von diesem Lehrgang besagen zum Glück das genaue Gegenteil 🙂
A pro-pos Aufzeichnungen: nie hätte ich es für möglich gehalten, nach 25 Jahren Karate Studium einmal mein Notizbuch mit so vielen Feinheiten zur Anfänger-Kata Heian Shodan zu befüllen. Und genau hier liegt die Essenz des gesamten Gasshuku von Freital: Basis-Übungen mit Präzisionen, die selbst für langjährige Enthusiasten neu und überraschend sind. Nicht der Teufel steckt hier im Detail, sondern wahres Budo Karate. Man merkt, Sensei beginnt langsam, seine Schatztruhe zu öffnen – ich wette, es ist nur der Anfang!
Bemerkenswert ist der Hinweis des Maestro, dass es im Budo Karate völlig egal sei, wenn eine Technik zuweilen nicht schön aussieht oder die Balance kurzzeitig verloren geht. So habe sein Meister Asai Tetsuhiko einmal ein Video von sich veröffentlicht, in dem er bei der Kata Gankaku deutlich gewackelt habe. Auf die Frage, warum er die Aufnahme nicht wiederhole, um es “perfekt” zu machen, habe dieser geantwortet: “Ich habe die Balance zurück erlangt, also ist es perfekt.”
Alle gleich
Den Organisatoren des Shotokan-Karateverein Freital e.V. ist es gelungen, eine famose Veranstaltung zu zaubern. Nach eigenen Angaben war es für den Club das erste Event dieser Größenordnung (200 Teilnehmer aus ganz Europa – unter der Schirmherrschaft des Ober-Bürgermeisters). Buffet und Getränke frei, eine super Party im Feldschlösschen, Drohnen-Fotos und perfekte Übersetzungen vom Englischen ins Deutsche und umgekehrt. Glückliche Gesichter sprechen eine deutliche Sprache: Subarashii-desu!
Überschattet wurde der Workshop von einem abscheulichen Terror-Akt in Christchurch, der Heimatstadt unseres neuseeländischen Lehrers. Ein rechtsradikaler Irrer hatte 50 Muslime in einer Moschee abgeschlachtet und die Tat per Live-Übertragung ins Internet gestellt.
Es war eine sehr schöne Geste der Veranstalter, der Opfer zu gedenken. André Bertel selbst nahm dies zum Anlass daran zu erinnern, dass wir im Shotokan rein weiße Anzüge und auf unseren Gürteln keine Zeichen von Dan-Graduierungen tragen. Es sei völlig egal, wie dick oder dünn das Portemonnaie sei, an was jemand glaube, welche Hautfarbe oder Herkunft man habe: Im Karate sind wir alle gleich.
2019, Oliver Schömburg (Olliwaa)
P.s.: siehe auch Lehrgang in Halle (Westfahlen)
Wundervoll geschrieben und als Teilnehmer kann ich die Eindrücke nur zu 100% bestätigen. Freue mich auf eine Wiederholung
Es hatte was herzlich familiäres.
Arigatou Gozaimasu