Als die Namen der Prüflinge aufgerufen und die Dan-Urkunden verliehen wurden, ging ich als einziger leer aus.
Weshalb ich durchrasselte war aber nicht der wahre Grund, warum ich die Graduierung nicht verdiente.
Behindert durch Arthrose
Aufgrund starker Hüftarthrose konnte ich mich kaum bewegen und beschränkte mich hauptsächlich auf Hand- und Armtechniken. Sehr schnelle Bewegungen und harte Tritte waren tabu und auch garnicht mehr möglich.
Wenn Karate für alle sei, so dachte ich, dann wohl auch für gesundheitlich Eingeschränkte. Also probierte ich, das nächste Level zu erreichen.
Um Kräfte zu sparen, nahm ich nicht am großen Lehrgang teil, der der Prüfung voraus ging. Nach spätestens einer Einheit hätte ich nicht mehr gekonnt, denn erfahrungsgemäß war es so, dass nach dem ersten Abkühlen in der Pause mein Hüftbereich verspannte, versteifte und noch mehr zu schmerzen begann. Auf vergleichbaren Veranstaltungen hatte ich wiederholt erlebt, dass ich in Bewegung und aufgewärmt bleiben musste. Einmal runterfahren und dann war’s das. Ein seltsames Phänomen.
Und so verbrachte ich den Tag auf der Zuschauertribüne. Dumm nur, dass die Teilnahme Bestandteil des Tests war. Man solle sich, so wurde mir später vorgehalten, bewusst bis zur Erschöpfung austoben, dann alle Reserven mobilisieren und Kampfgeist beweisen. Wenn ich diese Krankheit habe, warum sei ich dann nicht zuhause geblieben, raunte mich einer der Meister vorwurfsvoll und genervt an.
An diesem Punkt war sich die Kommission uneins, ob sie mich sofort disqualifizieren sollte. Aufgrund der außergewöhnlichen Situation gestattete sie mir nach einigem Zögern dann doch die Teilnahme. Minuspunkte waren mir trotzdem schon sicher…
Nicht genügend Seminare
Als nächstes der Blick in den Verbandspass. Die Jury stand mir gegenüber und blätterte skeptisch durch mein kleines Büchlein. “Das ist ja wirklich schade. Nur so wenig Einträge! Dabei bietet unser Verband doch so viele tolle Lehrgänge an! Interessiert dich das etwa nicht?”
Oops, die nächste Klatsche. Und so lernte ich das ungeschriebene Gesetz kennen, nach dem ein nicht näher spezifiziertes Minimum an Geld in interne Fortbildung zu investieren sei.
Dazu sollte erwähnt werden, dass ich in einer anderen Organisation groß geworden bin und erst kürzlich gewechselt hatte. Außer Überträgen von anerkannten Graduierungen, gab es nicht viel vorzuweisen. Und das was drin stand, war zum Großteil anderen Ursprungs. Zum Beispiel von Workshops meines Freundes und Mentors André Bertel.
Was ich auch nicht wusste war, dass die vorherige Teilnahme an einem Kurs zur Dan Vorbereitung erwartet wurde. Soetwas kannte ich bis dato nicht und es wunderte mich auch, denn meine Frau hatte sich einige Jahre zuvor einfach im Online Portal angemeldet und mehr brauchte es nicht.
Da ich als einziger Prüfling diese Lücke aufwies, ging es gleich noch ein paar Stufen ins Minus.
Versteckte Erwartungen
Da ich seinerzeit keinen Trainer hatte, bereitete ich mich selbst vor und studierte das Prüfungsprogramm allein.
Bei meiner Darbietung wurde ich mittendrin harsch ausgebremst. “Wo ist deine Kihon Kombination?” – Meine was?
Der nächste Vorwurf lautete, ich hätte mir keine Aneinanderreihung aus Grundschultechniken ausgedacht. Ich war verwirrt. Das Programm hatte ich auswendig gelernt und nirgends wurde etwas dergeleichen erwähnt. Also blieb nichts übrig, als in Echtzeit etwas aus dem Hut zu zaubern.
Besonders begeistert waren die zwei Herren nicht, ihren Blicken und Worten nach hatten sie Anderes erwartet. Und ja, besonders viel Kraft und Schnelligkeit konnte ich aufgrund meiner Arthrose nicht abrufen. Sorry!
Abgelenkt und verwirrt
Die Prüflinge wurden in Gruppen aufgeteilt. Zuerst sollten diejenigen zusammen in die Halle kommen, die den ersten Schwarzgurt anstrebten. Die zweite Gruppe waren Ni-Dan Anwärter, die dritte San-Dan und Yon-Dan zusammen. Diese letzte Gruppe bestand nur aus zwei Personen. Mit der anderen wartete ich geduldig im Umkleideraum und wir kamen ins Gespräch. Leider!
Es gibt Menschen, die sind sehr dominant. Und dann gibt es solche, die einem einen Kohl ans Ohr quatschen können. Und es gibt Typen, die beides zugleich beherrschen. “Was, das willst Du zeigen? Das wollen die Prüfer garnicht sehen. Guck mal, so mache ich es…du musst das so machen…komm wir üben schnell zusammen…”
Dieser Mensch schaffte es auf den letzten Metern, mich völlig aus dem Takt zu bringen. Da er höher graduiert war, sprang ich darauf an und entschied in letzter Sekunde, so gut wie alles Geplante über den Haufen zu werfen und durch Anderes zu ersetzen: Kata, Bunkai, Kumite Techniken, you name it…
Das Resultat fühlte sich dann auch entsprechend grauenvoll an und war echter Müll.
Mein größter Fehler
Ich bin verdient durchgefallen.
Die Prüfer urteilten allerdings über ein Karate, das nicht meins – und über jemanden, der nicht bei sich war. Alles Fake News!
Der Herr aus der Umkleide war mein Sparringpartner und man bescheinigte ihm am Ende, er habe meinetwegen mit angezogener Handbremse gekämpft und sein Potential nicht ausgeschöpft. Er bestand mit Bravour und ja, er war wirklich sehr gut!
Lange Zeit habe ich ihn dafür verflucht, dasss er mich so verwirrt hatte. Heute bin ich ihm dankbar für eine der wichtigsten Lehrstunden und die Offenbarung einer großen Schwäche.
Dass ich nicht bestand, war fast egal. Shit happens. Was mich wirklich ärgerte war, dass ich mich von meinem eigenen Weg habe abbringen lassen. Warum nur habe ich meinen Mitstreiter nicht einfach angelächelt und unbeirrt mein Ding durchgezogen? Ein Karate, das zu mir passt und sich richtig anfühlt?
Weil ich unsicher und somit unreif für diese Stufe war.
Die hohe Kunst des richtigen Scheiterns
Obwohl ich nicht bei ihnen den zweiten Versuch machte, hatte ich später ein sehr nettes Verhältnis zu meinen Prüfern. Sie waren seinerzeit wohl überfordert mit der Situation und kannten mich nicht. Sie ermutigten mich Monate danach, es nochmal zu probieren; und gaben wertvolle Tipps, damit es klappen würde. Mehrmals betonte ich ihnen gegenüber, dass ich dankbar für ihre damalige Entscheidung sei. Lieber so, als mit Ach und Krach oder aus Mitleid durchzukommen. Es hätte keinen Wert gehabt.
Vier Jahre später und mit neuer Hüfte habe ich die Dan-Shinsa übrigens in Japan, bei jemand anderem, bestanden.
Sollte ich es zukünftig wieder einmal verpatzten, wird es auch dann nicht das Ende der Welt sein. Doch eines weiß ich jetzt mit Sicherheit:
Ich werde mit meinem eigenen Karate scheitern.
2020, Oliver Schömburg (Olliwaa)
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